Buchtipp: „Vom ICH zum WIR“ von Dietrich Grönemeyer
Anlässlich seiner Lesung am 7. Juli 2017 in Dresden sprach das Top Gesundheitsforum Dresden mit dem Mediziner und Autor Dietrich Grönemeyer über die Leitgedanken seines Buches „WIR! Vom Mut zum Miteinander – Ein Manifest“.
Leben wir in einer Zeit, in der Ihrer Meinung nach die Menschen das Miteinander verlernt haben?
Dietrich Grönemeyer: Wenn man in die Welt schaut, könnte man das leider meinen. Nie klaffte die Schere weiter auseinander. Der schrecklichen Armut vieler Länder steht gigantischer Reichtum großer Industrienationen gegenüber. An Möglichkeiten zur Hilfe fehlt es nicht. Die materiellen, technischen und wissenschaftlichen Voraussetzungen für einen humanen Ausgleich waren nie besser. Die moderne ökologische Landwirtschaft könnte genug für alle produzieren. Kein Regenwald müsste dafür abgeholzt werden. Es würde genügen, dass wir weniger verschwenderisch und nicht zerstörerisch mit den Ressourcen des Globus‘ umgehen. Die rasant voranschreitende Forschung und das wachsende Umweltbewusstsein erlauben zusammen die Lösung von Problemen, die noch vor wenigen Jahrzehnten menschheitsbedrohend waren. Wir sollten das Miteinander als Chance verstehen, vielleicht sogar als letzte Chance. So paradox es klingt: Aber schon aus egoistischen Gründen sollten wir die Gemeinschaft im Auge haben. Es gibt nur diese eine Welt.
Sie schreiben, der Ausgangspunkt für eine gestärkte Gemeinschaft kann nur der Einzelne sein. Wie meinen Sie das?
Wir müssen vom Ich zum Du zum Wir kommen! Unsere Welt, die eine, die uns allen gehört, ist bedroht wie noch nie. Kriege, Hungersnöte, tödliche Epidemien und unzureichende medizinische Versorgung bedrohen die Weltgemeinschaft. Wir sollten uns dessen bewusst sein. Wir sollten gemeinschaftlich den wissenschaftlichen Fortschritt nutzen und dabei die Achtung vor der Schöpfung der Welt und vor dem Leben, das uns geschenkt wurde, nicht verlieren. Das Leben ist ein Geschenk! Dies gilt es, individuell und gemeinschaftlich zu schützen. Jeder hat die Chance, es zu genießen, indem er für sich und andere Verantwortung übernimmt. Bis in den letzten Winkel unseres Erdballs tragen wir Verantwortung für das große Ganze, auch für die Tiere und Pflanzen. Fokussierung auf das Wesentliche, lernen, mit den Ressourcen unserer Erde so zu haushalten, dass Natur und Nachkommen eine lebenswerte Zukunft haben. Wir müssen wieder Vorbilder werden: Wir müssen den Kindern mit unserer vorausschauenden Zuversicht Vorbild sein, damit sie später selbst den Mut haben, weltoffene Gemeinschaften und Familien zu gründen, um die Schöpfung friedvoll zu erhalten.
Misstrauen und Angst vor Andersartigkeit scheint bei vielen Menschen stärker denn je. Ist der Reflex, die Flüchtlingswelle für die eigenen Probleme verantwortlich zu machen, ein nachvollziehbarer?
Wir Menschen sind alle gleich. Gleich und einzigartig: durch Geist und Seele, den Wunsch, glücklich zu leben, zu lieben und geliebt zu werden. Sicher, jeder von uns hat Angst. Alles, was neu ist, verunsichert zunächst. Doch Neues trägt Zukunft in sich! Berührungsängste machen unfröhlich und verbinden nie – sie trennen nur. In jedem Kulturkreis werden die Menschen auf unterschiedliche Weise versuchen, sich den drängenden Problemen der Zeit zuzuwenden. Ein unvermeidbarer Prozess – und eine große Chance, voneinander zu lernen, gemeinsam kreativ zu werden und die Vielfalt zu genießen. Nie waren die Möglichkeiten dafür größer als in unserer kommunikativ vernetzten Welt. Aus der Erkenntnis der Unterschiede können sich ganz neue Alternativen ergeben, ungeahnte Verknüpfungen, Synergien und gemeinschaftlich entwickelte Lösungen unermesslichen Ausmaßes. Das „Sowohl-als-auch“ wird in Zukunft den menschlichen Fortschritt befördern und den Sprung zu einem humanistischeren Bewusstsein ermöglichen. Dass es auf dem Weg dahin immer wieder Menschen geben wird, die sich aus Angst und Ohnmacht, aus politischen oder finanziellen Gründen ablehnend gegenüber Menschen aus anderen Ländern verhalten werden, liegt in der Natur der Sache.
Welche Rolle spielt die Akzeptanz anderer Wertvorstellungen? Kann man Toleranz lernen?
Meine Meinung ist: Toleranz und Respekt sind wichtig, aber keine Einbahnstraße. Ja, wir sind alle gleich – die Würde des Menschen unantastbar: Ein Leben in Würde sollte für jeden möglich sein, unabhängig von Geschlecht, Alter, Hautfarbe, Glaube. Wir müssen Ernst machen mit der Einsicht, dass wir alle Brüder und Schwestern sind, auf Gedeih und Verderb eingebunden in die eine Menschheitsgeschichte und das große Weltganze. Individualität und Gemeinschaft sind dabei keine Gegensätze, sondern bedingen sich. Eigenverantwortung und Verantwortung in und für die Gemeinschaft – darauf kommt es an. Handeln, statt sich behandeln zu lassen. Aber: Genauso wie es gilt, die Kultur und die Religionen zugewanderter Menschen zu respektieren, muss dies auch umgekehrt gelten. Zusammenleben als Chance. Es liegt bei uns, die ständig fortschreitende Verschmelzung der Kulturen als eine Herausforderung wahrzunehmen, die neue, positive Perspektiven für alle eröffnet. Mit anderen Worten: Wir und andere können noch viel über Toleranz lernen.
Sie engagieren sich stark im Bereich frühkindliche Gesundheitserziehung. Was sind zentrale Forderungen Ihrerseits? An welchen Stellschrauben sollte dringend gedreht werden?
In meinen Büchern und mit meiner Stiftung für Prävention bei Kindern und Jugendlichen plädiere ich seit Jahren für den Dreiklang aus Bewegung, Ernährung und Wohlbefinden. Mir geht es darum, dass Kinder wissen, was sie gesund und was sie krank macht. Mir geht es darum, dass die Kinder von heute gar nicht erst die Patienten von morgen werden. Konkret fordere ich unter anderem die Einführung von Gesundheitsunterricht, fest verankert auf dem Stundenplan und eine Stunde Bewegung für jedes Kind an jedem Tag.
Mit welchem Thema beschäftigen Sie sich in Ihrem nächsten Buchprojekt?
Mein nächstes Buch wird sich – jenseits der humanistischen Themen dieser Welt – wieder mit der Wunderwelt des Körpers befassen. Wie Sie wissen, bin ich als Facharzt für Diagnostische Radiologie ja seit vielen Jahren auf Erkrankungen des Gelenkapparates und der Wirbelsäule spezialisiert. Da mir als Aufklärer die Volksgesundheit besonders am Herzen liegt und ich mit großer Sorge die negativen Entwicklungen bei den Volkskrankheiten beobachte, werde ich mein nächstes Buch dem Kampf gegen Rückenschmerzen widmen. Ohne erhobenen Zeigerfinger und mit vielen praktischen Tipps zur Vorbeugung und bei akuten Schmerzen.
Interview: Philipp Demankowski