Prof. Heinz Hänel: Wie ich die rettende Pille fand
Das Medikament Fexinidazole hat die afrikanische Schlafkrankheit in den letzten zweieinhalb Jahren nahezu ausgerottet. Entdeckt hat es der Frankfurter Biologe und Parasitologe Prof. Dr. Heinz Hänel – auf eigene Faust. Der Pharmariese Sanofi verschenkt es im Kongo und vielen anderen afrikanischen Ländern, transportiert es in die entlegensten Gebiete. Eine Großtat, die Sanofi nicht nur die Frontpage der französischen Tageszeitung „Le Figaro“ einbrachte, sondern weltweit für einen riesigen Imagegewinn sorgt. Fakt ist: Ohne Hänels Eigeninitiative und seine illegale Brecheisen-Aktion im Sanofi-Firmenkeller würde es das Medikament nicht geben.
Locker lassen war noch nie sein Ding. Der kleine Heinz ist vier, als er im Offenbacher Wald einen „ komischen Pickel auf einem Buchenblatt“ entdeckt. „Ich wollte von meinem Vater wissen, was da drin ist. Er hatte natürlich keine Ahnung und das hat mich sehr geärgert. Ich wusste genau: Das will ich mal herausfinden!“ Heute erklärt Hänel mit Hingabe und Leidenschaft interessierten Bürgerinnen und Bürgern die Buchengalle und andere Gallenphänomene bei Exkursionen durch den Botanischen Garten.
In seinem Leben ist es tatsächlich oftmals der Ärger, der Heinz Hänel antreibt. Vor allem über die Bürokratie in großen Unternehmen: „Ich mag keine Leute, die nur auf SOPs, Standard Operating
Procedures, schielen, anstatt auf Play To Win. Bei Dienst nach Vorschrift werde ich sehr ungehalten. Ich mag keine Kontrolle. Ich mache gerne das, was ich denke, was ich machen sollte.“ Womit wir wieder bei Hänels Erfindung Fexinidazole sind.
Die Forschung wurde eingestellt: unrentabel
Bei der Hoechst AG, wie Sanofi früher hieß, erforschte der Werksstudent Heinz Hänel 1979 Moleküle, die parasitäre Krankheiten wie Tuberkulose und Malaria unter Kontrolle bringen sollten. Dabei wurde auch Fexinidazole entwickelt und erfolgreich an Mäusen getestet. 1980 stellte Hoechst die Forschung als unrentabel ein und wandte sich lukrativeren Geschäftsfeldern wie Diabetes, Krebs und Bluthochdruck zu. Die gewonnenen Erkenntnisse landeten im Firmenkeller. 24 Jahre lang.
Faszinierende Parasiten
Nun muss man wissen, dass Parasiten für Heinz Hänel ähnlich faszinierend sind wie Gucci für Fashionistas oder Bugatti für Autoliebhaber: „Schon während des Grundstudiums habe ich gemerkt, dass die biologische Komplexität des Parasiten viel spannender ist als das relativ überschaubare Leben eines „normalen“ Tieres. Ein Parasit muss vom Wirt über Zwischenwirte zum Wirt kommen. Es dauert Jahre, bis so ein Lebenszyklus abgewickelt ist“, erklärt Hänel mit leuchtenden Augen am Beispiel des gemeinen Holzbocks. Der nämlich fängt sein Parasitendasein bei der Maus an und gelangt über den Fuchs zum Eichhörnchen zum Hirsch, von dem er abfällt und schließlich einen Menschen finden muss, der vorbeikommt (Gedächtnisprotokoll der Redakteurin). „Alles muss lange parallel laufen und möglichst wenig schaden. Das wichtigste ist ja, dass ein Parasit seinen Wirt nicht gleich umbringt, denn dann hat er ja keinen Wirt mehr“,
erklärt Hänel mit schelmisch-schlauem Koryphäen-Lächeln. Kunstpause. Dann: „Wissen Sie eigentlich, dass das Wort Parasit aus dem Griechischen kommt und übersetzt Beamter bedeutet?“
2004 veröffentlicht Hänel in einer renommierten Parasiten-Fachzeitschrift (von denen es weltweit tatsächlich zehn gibt), einen Artikel über antiparasitäre Wirkstoffe, in dem er am Rande auch Fexinidazole erwähnt. Prompt kommt ein Anruf aus Genf: „Die DNDi, Drugs of Neglected Diseases initative, eine Tochtergesellschaft von Ärzte ohne Grenzen, fragte, ob ich noch alte Unterlagen hätte. Man wolle ein Medikament gegen die Schlafkrankheit in Tablettenform entwickeln. Bisher gab es ja lediglich ein paar intravenöse Mittel.“ Hänel, mittlerweile bei Sanofi für die Entwicklung von Antidiabetika zuständig, ist sofort Feuer und Flamme.
Mit dem Brecheisen im Firmenkeller
Doch sowohl sein damaliger Chef von Sanofi-Aventis als auch ein Forschungsleiter des Konzerns lehnen das Vorhaben ab. „Es wurde mir verboten, mich mit dem alten Kram zu beschäftigen. Ich solle mich auf die eigentlichen Ziele konzentrieren und nicht ablenken lassen.“ Hänel, der sich einer extrem hohen Frustrationstoleranz rühmt, läuft zur Höchstform auf: „Ich dachte mir: Denen zeig ich’s! Ich wandte mich an Frau Wilhelmi, die langjährige Leiterin des Archivs, die ich noch aus Praktikumszeiten kannte.“ Eine Verbündete, samt Schlüssel zum Firmenkeller.
Doch in welcher Kiste suchen? Tagelang schleichen Professor und Archivarin in den Konzernkeller, hebeln Stapel und Stapel verschlossene Holzkisten mit dem Brecheisen auf. Bis sie eine Probe des Moleküls HOE 239 finden, nebst Syntheseanleitung und ausführlichen Studien – der Wirkstoff, aus dem Fexinidazole besteht. Hänel packt alles ein und fliegt heimlich in die Schweiz, wird beim DNDi mit offenen Armen empfangen. Kurz drauf beginnen klinischen Studien zur Wirksamkeit. Zigmal fliegt Hänel nach Genf, um die Forschung zu begleiten. Persönlich schafft er es, die Bill & Melinda Gates Foundation ins Boot zu holen, und „20 Millionen Euro nebenbei“ zu organisieren. Internationale private Geldgeber springen auf, staatliche Mittel aus sieben Ländern, auch aus Deutschland, werden zur Verfügung gestellt.
Unschätzbarer Imagegewinn
Vier Jahre später, 2008, publiziert das Swiss Tropical Institute erste Ergebnisse. Die Fachwelt rund um den Globus ist aus dem Laborchen, pardon, dem Häuschen. Auch in Frankfurt bei Sanofi. Hänel tagt mit der neuen Konzernleitung: „Ich sagte, es ist unser Molekül. Wir haben soziale Verantwortung. Wir müssen Fexinidazole offiziell produzieren.“ Sanofi (damals noch Aventis) arbeitet bereits seit 2001 in enger Kooperation mit dem DNDi, spendet intravenöse Medikamente und sucht mit nach Patienten – unterstützt von der World Health Organisation (WHO).
Am Heiligabend 2018 wird Fexinidazole in der Demokratischen Republik Kongo zugelassen, nachdem die Europäische Arzneimittelbehörde grünes Licht gegeben hatte. Als der erste Patient die erste Tablette bekommt, gibt es in Anwesenheit des Gesundheitsministers eine offizielle Feier. Auch Hänel ist eingeladen, darf aber nicht in den Kongo reisen – zu gefährlich.
Auf der Titelseite feiert „Le Figaro“ den revolutionären Wirkstoff – und den Altruismus von Sanofi-Aventis. Denn pro Medikament mit neuem Wirkstoff, das es zur Zulassung schafft, muss ein Unternehmen Kosten von 1 bis 1,6 Milliarden US-Dollar veranschlagen. Fenixidazole hatte nie einen Preis: „Wir könnten nicht mal einen Euro nehmen. Noch nicht mal den haben die Leute dort“, sagt Hänel nachdenklich. „Und uns würde der Euro auch nichts nutzen. Der Imagegewinn aber ist unschätzbar.“
Tagelange Fußmärsche in die Klinik
Unschätzbar ist Fexinidazole auch für die betroffenen Menschen. Zwar gab es bereits intravenöse Behandlungen gegen die afrikanische Schlafkrankheit, die Nebenwirkungen waren jedoch extrem, viele brachen die Therapie ab. Zudem durfte beim Transport die Kühlkette nicht unterbrochen werden. „Auf den großen Flüssen im Kongo gibt es Tausende Inseln, die man nur mit dem Einbaum erreicht. Unmöglich, dorthin gekühlte Medikamente zu liefern. Infizierte marschierten tagelang zu Fuß bis in die nächste Klinik, wo sie Wochen verbringen mussten. Zuhause konnten sie ihre Familien nicht mehr ernähren, viele verhungerten“, schildert Hänel sichtlich betroffen. „Heute gehen unsere Trupps gezielt in die Dörfer, untersuchen die Leute. Infizierte nehmen zehn Tage lang meine Tabletten, können weiterarbeiten und werden geheilt.“
Neclected Tropical Deseases (NTDs)
Die afrikanische Schlafkrankheit gehört zu den vernachlässigten Tropenkrankheiten (Neclected Tropical Deseases, NTDs), an denen fast nur arme Menschen in afrikanischen und asiatischen Entwicklungs- und Schwellenländern erkranken. Mehr als eine Milliarde Menschen in 149 Ländern sind betroffen, die Hälfte davon Kinder. „Tatsächlich könnten die meisten NTDs wirksam bekämpft werden. Doch für die Pharma-Unternehmen ist die Erforschung dieser Medikamente weder attraktiv noch profitabel, weil die Menschen, die sie brauchen, sie nicht bezahlen können“, sagt Julien Potet von Ärzte ohne Grenzen. Hänels Fexinidazole wird international als Lichtblick im mühsamen Kampf gegen die NTDs gefeiert.
Schlafkrankheit
Die Schlafkrankheit, medizinische Bezeichnung Humane Affrican Trypanosomiasis (HAT), wird durch den von der Tsetsefliege übertragenen Erreger Trypanosoma ausgelöst und ist im zentralen Afrika, vor allem im Kongo, weit verbreitet. Sie befällt das zentrale Nervensystem, der Verlauf ist schleichend. HAT führt zu Schlaf-, Empfindungs- und psychischen Störungen, später zu Krampfanfällen und Koma und endet immer tödlich. 35.000 Fälle meldete die WHO noch in den 1990er-Jahren jährlich, von der Dunkelziffer ganz zu schweigen. Die tückische Infektion ist seit der
Unterstützung durch Sanofi und seit der Verabreichung von Fexinidazole zu 95 Prozent ausgerottet: Letztes Jahr waren es noch 980 gemeldete Fälle.
Redaktion: Kitti Pohl